Fremdgehen in den Niederlanden – 600km Brevet in Boekelo 8. September 2018

Georg Maas

 

Prolog:

Der Zweifel nagt an mir. An an einem heißen Juni Samstag im Regionalzug. Irgendwo zwischen Heldrungen und Halle/Saale. Im Grenzgebiet zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt. Vor einer Stunde habe ich das 600km Brevet in Sachsen, auch als „Einmal Hölle und zurück“ (wunderbarer Bericht im Blog von Takeshi) geadelt, abbrechen müssen. Zuviel Hitze, zu viel Gewicht für zu viele Höhenmeter, zu viel nicht auskurierter Infekt. Nach der Hälfte ist Schluss. Kein Druck auf dem Pedal lassen jede kleine Steigung zur Qual werden. Kein Spaß. Es reicht. Aber der Zweifel bleibt. Doch zu früh? Hätte ich mich in die Kühle der zweiten Nacht retten müssen? Zum ersten Mal seit Jahren schaffe ich die Serie nicht? Die Ausgangsposition für PBP2019 hat sich nicht gerade verbessert. Reicht ein 400er?

Das Gefühl des Zweifels geht nicht verloren. Auch nach Tagen und Wochen nicht. Im Gegenteil. Verzweifelt mache ich mich auf die Suche im Internet. Von meinen britischen Freunden aus dem Audax UK weiß ich, dass es noch jede Menge 600er bis Ende Oktober, dem Ablauf des Brevet-vor-Qualifikationsjahres, gibt. Aber deswegen auf die Insel fliegen? Also Recherche im Internet. Ernüchterung bei „Audax Allemagne“. Der letzte 600er in Deutschland war am 23. Juni. Das letzte Brevet überhaupt am 28. Juni der 1000er in Nordbayern. Alle schon durch. Der Blick geht nach Polen und Tschechien wegen der Nähe. Da finde ich überhaupt nichts. Also weiter nach Norden Richtung Dänemark. Und plötzlich die Eingebung: War da nicht etwas mit den Niederlanden? Da hatte ich doch schon einmal was von „Merselo – Verona“ gelesen! Und wirklich: Auf der Website werde ich sofort fündig. Ein 600er am 8. September 2018 in Boekelo! Vor lauter Begeisterung überlese ich das Wort „Sauerland“, das in der niederländischen Beschreibung öfter vorkommt. Auf googlemaps erfahre ich, dass der Ort gleich hinter der deutschen Grenze auf Höhe Münster/Rheine liegt. Mit dem Auto von Leipzig ca. 500 km. Mit der Bahn 6:00 Stunden! Ich kann mein Glück nicht fassen. Sollte ich die Saison doch noch zu einem guten Ende abschließen und eine gute Ausgangsposition für PBP2019 bekommen! Ich maile gleich Gert Beumer, dem Organisator am Startort Boekelo, und erhalte umgehend Antwort: Die Anmeldung sei etwa einen Monat vor Beginn offen. Alle die wollen, können auch mitfahren! Perfekt. Ich nehme gleich Kontakt mit Fritz auf. Wir haben uns letztes Jahr beim 400er in Berlin kennen gelernt und fahren seitdem so viel wie möglich zusammen. Fritz fehlen auch noch die 600 dieses Jahr. Ich erkläre, dass wir noch Aussicht auf einen 600er haben „in den Niederlanden, also alles flach. Höchstens mal einen Deich hoch und ein wenig Wind“. Keine Frage. Wir fahren zusammen. In der Nähe des Startortes buchen wir in einem Bauernhof zwei Zimmer ein. Die Anmeldung läuft dann auch ohne Probleme. Die Unterlagen gibt es ausnahmslos als Download auf der Website. Alles ist sehr unkompliziert. Als ich den Track aufmache, wird mir dann aber schlagartig klar, was der Zusatz „Sauerland“ bedeutete. Die Strecke führt immer Richtung Südosten aus den Niederlanden heraus durch das Sauerland! In Fritzlar bei Kassel wieder etwas nördlich zurück! Höchster Punkt ist Winterberg auf 680 Meter. 5200 Höhenmeter sind zu bewältigen! Das hatten wir uns etwas anders vorgestellt.  Die Vorfreude trübt das aber keinesfalls!

Tag 1:

Der Blick durch das Fenster direkt nach dem Aufstehen zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. Die Sonne scheint durch die herbstlich gefärbten Blätter. Gestern Abend sind wir in Boekelo angekommen. Nach einer ruhigen Fahrt ohne Stau und Hast. Die Räder haben wir noch am Abend fertig gemacht. Und nach ein paar niederländischen Bieren gleich ins Bett. Der Bauernhof ist voll mit Randonneuren aus dem Kölner Raum. Wie sich schnell herausstellt auch für diese die letzte Möglichkeit den 600er zu fahren.

Wir frühstücken in aller Ruhe und Opulenz. Trotz Sonne ist es frisch. Also erst einmal lange Klamotten. Die Fahrt zum 6km entfernten Start schraubt die Freude weiter hoch. Sehr ruhig und ohne Hast fahren wir durch Auen und Wälder. Gert empfängt uns in einer sehr gemütlichen Kneipe. Er erzählt, dass er normalerweise um die 20 Fahrer hat. Heute hätten sich über 70 angemeldet! Wir nehmen unsere Karte in Empfang und wollen noch einen Kaffee trinken. Es ist noch etwas Zeit. Die Kneipe füllt sich mit Randonneuren. Da entdecken wir eine kleine Berliner Enklave. Auch Ralf und seinen Freunden fehlt noch ein 600er. Wir setzen uns nach draußen in die Sonne. Die Stimmung ist prima. Unachtsam wie ich bin, werfe ich mein angelehntes Rad auf die Seite. Natürlich immer auf die Rechte. Das Schaltwerk verbiegt sich. Das wird mir noch einige Stopps später einbringen. Beim Grundsetting habe ich eine kleine Änderung vorgenommen. Statt der 14 Liter Lenkertasche habe ich eine 9 Liter Saddle-Bag von Apidura montiert. Da ist zwar genauso viel darin aber die staut sich wesentlich kompakter. Und ich kann auf die kleine Specialized Satteltasche verzichten. Ansonsten alles wie immer. Dem Open hatte ich noch 32mm „WTB No Tubes“ verpasst. Die rollen sensationell und sind wesentlich komfortabler als die 28mm Schwalbe. Das sollte noch eine große Rolle spielen.

Open im Hotel
Open einsatzbereit!

 

 

Kurz vor 9 Uhr versammelt uns Gert auf der Straße und informiert uns noch über das Wesentliche. Dreisprachig. Neben mir stehen zwei Randonneure aus Barcelona auf einem Tandem. Die beiden, Vater und Sohn, wollen unbedingt nach Paris nächstes Jahr und teilen das Schicksal, die letzte Chance auf einen 600er. Dann geht es pünktlich um 9 Uhr los.Das übliche Klackern der Schuhe in die Pedale. Es geht einigermaßen gemütlich und zusammen aus Boekelo hinaus. Dann das typische „Brevet nach Start“ verhalten. Eine kleine Gruppe geht gleich nach vorne und setzt sich langsam ab. Dann folgen drei größere Gruppen. Ich fahre mit Fritz in der Zweiten. Mit etwa 25 Randonneuren fahren wir in Doppelreihe wie es sich gehört. Es wird viel geredet. Die Stimmung ist gut. Tempo auch. Es rollt mit 28-30 km/h dahin. Nach 16 km überfahren wir die Grenze nach Deutschland. Ohne das blaue Schild mit den gelben EU-Sternen am Straßenrand wäre es zunächst gar nicht aufgefallen. Da wird mir noch mal klar, wie folgenreich die Brexit-Entscheidung ist! Und das ich für LEL2021 meinen Reisepass nicht vergessen darf. Das Profil bleibt flach. Nach etwa 40km verstummen die meisten Gespräche. Die ersten in der Gruppe bekommen Schwierigkeiten und nach einer Links-Rechts-Kombination über einer stark befahrenen Bundesstraße, zerfällt die Gruppe endgültig. Da wir alle den Abzweig auf einen kleinen Asphaltweg verpasst haben, kürzen einige Randonneure ab, indem sie ihr Fahrrad über einen Graben entlang der Bundesstraße tragen. Und es gibt tatsächlich welche, die lassen die anderen vor, um testen zu lassen, ob da Wasser im Graben ist. Liederlich!

Fritz
Fritz

Ab hier fahren Fritz und ich bis zum Schluss alleine weiter. Wir haben uns gerade deshalb letztes Jahr in Berlin gefunden, weil wir die gleiche Grundeinstellung: Brevetfahren ist Zeit für uns selber. Außerhalb des alltäglichen Trubels. Etwas schon fast meditatives. Wir mögen kein Gequatsche unterwegs. Reden auch nicht viel. Passen stattdessen aufeinander auf. Wissen, wann der andere durchhängt. Geben selbstverständlich Windschatten. Warten auf den anderen. Wir wollen einfach nur Ruhe und Genuss. Er hat das nach der ersten gemeinsamen Fahrt auf den Punkt gebracht: „Mit Dir kann ich zusammen fahren und trotzdem allein“! Ein schöneres Kompliment hätte er uns gar nicht machen können. Ohne Fritz ist Brevetfahren nicht mehr vorstellbar.

 

 

Ortsschild Selm
Selm wie Selma

Nach 62km erreichen wir in Bahnhof Reken die erste Kontrolle. Es bleibt Zeit für einen Kaffee und wir entledigen uns den langen Klamotten. Dann geht es schon wieder raus aus der Kontrolle. Die Strecke bleibt flach und schön. Gegen Mittag beschließen wir, im nächsten Ort einzukehren. In Vinnum (97km) entdecken wir direkt an der Strecke das Landhotel Mutter Althoff. Was von außen eher ländlich sittlich aussieht, entpuppt sich beim Betreten als Ort der anspruchsvollen Gastronomie! Die Currywurst wird entsprechend auf Porzellan serviert. Die Pommes sind aus ganzen Kartoffeln handgeschnitzt! Es schmeckt ganz wunderbar und geht auch schnell. Beim Essen schauen wir ab und an durch das große Fenster auf die Straße. Zwei Randonneure fahren vorbei. Ansonsten ist alle wie ausgestorben. Kein Fußgänger, kein Auto. Es wirkt wie tot in einer Kulisse aus Tristesse in Beton und gefegten Bürgersteigen. Irgendwie unheimlich. Aber das Essen hat gut getan. Das alkoholfreie Weizen auch. Und so fahren wir weiter. Unterwegs sehen wir die Kühltürme vom „Schnellen Brüter“ in Hamm. Das erinnert mich an meine Jugend, als wir noch zur Familie mit dem Auto von Braunschweig nach Brühl/Köln gefahren sind. Schon eigenartig, das jetzt mal aus einer anderen Perspektive zu erleben. Wir kommen auch durch einen Ort „Selm“ da muss ich doch gleich der Selma ein Foto nach Hause schicken!

Flaches Land
Schönes, flaches Land!

 

Auf weiterer Strecke kreuzt unser Track unbeabsichtigt eine Volkslauf-Veranstaltung. Die Strecke folgt ein Stück entgegen der Laufstrecke. Etwas unangenehm. Entsprechend müssen wir uns einige Sprüche der Teilnehmer gefallen lassen. Als wir aus der Strecke herausfahren, stehen ein Krankenwagen und ein Notarzt auf der Straße. Später erfahren wir, dass darin einer der Randonneure liegt. Offenbar auf Sand ausgerutscht und irgendetwas gebrochen. Mist.

Nach 150km erreichen wir die 2. Kontrolle in Bremen. So langsam steigt die Anspannung in mir. Bis dahin war das Brevet einfach weil flach. Von der Streckenbesichtigung im Netz weiß ich jedoch, dass es nach 175km mit dem großen Spaß ein Ende haben wird und wir hinter dem Möhnesee rechts in das Sauerland einbiegen. Und so sollte es auch kommen. Am Möhnesee, eine kilometerlange Talsperre am Nordrand des Sauerlandes, fahren wir am Nordufer entlang. Etliche Kilometer, wo Menschen aus der Region Ausflüge machen und Freizeit genießen. Wir fahren auf dem Radweg und treffen den einen oder anderen Radfaher. Die fahren meist einmal um den See zum Feierabend. Fritz fährt ein Stück neben einer charismatischen Rennradlerin. Doch dann ist auch schon das Ende der Talsperre erreicht und es geht sofort auf die Sauerlandstrasse immer schön bergauf. Alle Erinnerungen an den Juni werden wach. Das Gelände erinnert mich an den Harz. Die Straße ist wie ein breites Band aus Asphalt in den Bergrücken gefurcht. Links und rechts ein breiter Standstreifen. Den nutzen wir. Kette links. Mit 34/32 kurbele ich den Berg hoch. Für Trainierte eher ein Rollerberg. Für uns nicht. Zum Glück ist der Berg gnädig. Sehr gleichmäßige Steigerung. Auffällig ist, dass alle paar Hundert Meter richtig üble Fotos von verunglückten Motorradfahrern auf großen Stellwänden an der Straße stehen. Offenbar ist das eine Rennstrecke für Motorradfahrer. Wir bekommen davon zum Glück nichts mit. Am späten Samstagnachmittag ist offensichtlich die Meute schon durch. Lediglich zwei Motorräder kommen und von oben in einer atemberaubenden Schräglage entgegen! Ein kleiner Geschmack auf das, was uns hätte erwartet, wenn wir früher angekommen wären. Endlich kommen wir auf der Kuppe an. Belohnt werden wir mit einem der schönsten Abschnitte des Brevets. Auf sechs Kilometer bauen wir die gerade gewonnenen Höhenmeter auch schon wieder am. Es geht nach Meschede hinunter. Aufgrund der guten Straßenverhältnisse kann ich das Open einfach laufen lassen. Genau mein Ding. Die Geschwindigkeit nimmt zu. Ein scheuer Blick auf das Garmin zeigt 70km/h, 72km/h, 76,4km/h!! Wow. Ich habe mich gleich noch einmal in das Rad verliebt. Es fährt wie auf Schienen. Nichts schwimmt. Nichts ist unruhig. Einfach nur schnell geradeaus. Leider ist der Rausch an der ersten Ampel in Meschede vorbei. Ich halte erst einmal an und warte auf Fritz. Das Leichtgewicht kann bergab nicht mit meinen 98kg mithalten ;-). Wir fahren durch Meschede durch und wissen, dass es jetzt wieder nach Winterberg, dem höchsten Ort der Strecke auf 680m wieder bergan geht. Kurz hinter Meschede treffen wir auf einen Randonneur, der gerade entschlossen hat auszusteigen. Eine gerade verheilte Oberschenkel OP macht zu schaffen. Wir fahren weiter und haben langsam wieder Hunger und beschließen, im nächsten Gasthaus etwas zu essen. Das kommt aber erst einmal nicht. Die Orte, die wir durchfahren oder an denen die Sauerlandstrasse vorbei führt, sind klein und dunkel. Kein Anzeichen auf etwas zu essen. Wir halten kurz an und ziehen uns wärmer an und machen Licht ans Rad. Hinter Siedlinghausen biegen wir auf die Hochsauerlandstrasse. Noch 10km bis Winterberg. Von denen geht es die letzten 8,5km nur bergauf. Es ist mittlerweile stockdunkel. Der Himmel ist bewölkt. Zum Glück keine sternenklare Nacht. Und auch kein Regen. Trotzdem wird es merklich kühler. Vor dem Anstieg taucht plötzlich linkerhand ein Landgasthof auf. Wir kehren ein. In diesem Fall ist das genau umgekehrt. Von außen wirkte das sehr mondän. Innen entpuppt sich das  Ganze als besserer Imbiss. Wir essen eine Erbsensuppe mit Würstchen aus der Dose. Aber egal. Hauptsache Kalorien. Zwei Randonneure kommen dazu. Eine halbe Stunde später machen wir uns nachtfertig. Überschuhe an, Ärmlinge, lange Jacke. Mir ist schon warm, als es in den Anstieg hineingeht. Am Fuße des Berges feiert die Dorfjugend eine Party. Finde ich super und hätte das auch in dieser Abgeschiedenheit gar nicht erwartet. Guter Zusammenhalt. Wir vier klettern in die Dunkelheit. Langsam und stetig, bis die ersten Lichter von Winterberg (230km) auftauchen. An der Tankstelle wollten wir eigentlich nur kurz stempeln und dann gleich weiter. Wir hatten ja gerade erst gegessen. Da passiert etwas Unfassbares. Wie sich später im Überwachungsvideo herausstellt, klaut ein Kunde das kurz vorher abgelegte Handy von Fritz an der Kasse, während er stempeln lässt. Und steigt dann in sein Auto und fährt. Wir fangen sofort an zu suchen. Ohne Erfolg. Anruf von meinem Handy an. Abgeschaltet. Jetzt müssen alle Accounts gesperrt werden. Ich bin einfach immer noch sprachlos, was da gerade passiert ist. Wie weit sind wir gesunken! Die anderen beiden verabschieden sich schon mal. Fritz erledigt die Sperrungen über Telefon.

Nachdem erst einmal alles erledigt ist, fahren wir weiter. Irgendwie meldet sich mein linkes Knie. Mache mir aber keine großen Gedanken. Da Winterberg der höchste Punkt ist, folgt eine lange Abfahrt. Das tut gut. Danach geht es bis Fritzlar immer hoch und runter. Aber alles lange stetige Aufstiege und wunderschöne Abfahrten durch die Nacht. Da langsam die Müdigkeit in die Körper fährt, setzen wir uns an einem Bushäuschen kurz hin und machen die Augen zu. Nach 15 Minuten weckt uns die Kälte. Wir sind aber danach hellwach. Es folgt die Kontrolle in Fritzlar (312km). Nur kurz einen Kaffee und ein Kaltgetränk. Die Dame in der Tankstelle öffnet uns, so dass wir nicht am Nachtschalter stehen müssen. Sehr nett. Nach kurzem Halt geht es weiter. Ein paar Kilometer später bietet sich beim Linksabbiegen in einem Ort ein bizarres Bild. An der Kreuzung sitzen zwei Fahrradfahrer. Die Räder auf dem Fußweg. Ein Hinterrad ausgebaut. Alle Ausrüstungsteile verstreut. Im ersten Moment denke ich, da sei ein Sturz passiert. Wir halten an. Zum Glück ist es nur ein Platten. Beim Versuch, diesen zu flicken, sind offenbar mehrere Schläuche drauf gegangen. Wir helfen aus. Das reicht aber nicht. Wir werden auch gebeten, den Schlauch zu wechseln. Der Fahrer ist total hilflos! Das haben wir auch noch nicht erlebt. Also hebe ich den Reifen an einer Seite ab, wechsle den Schlauch, Reifen drauf, Luft drauf, hält. Ob wir noch etwas tun können. Nein, alles gut. Wir fahren weiter.

Tag 2:

Der Morgen beginnt zu grauen. Im Vergleich zu einem Brevet im Juni schon merklich später. Noch ist der Himmel wolkenverhangen. Trotz Bewölkung zeigt die Temperaturanzeige auf dem Navi zwei Grad Minimum an. Gegen 6:30 Uhr erreichen wir die Kontrolle in Diemelstadt (366 km). McD direkt an der Autobahn. Der Hunger wird mit einem guten Frühstück gestillt. Mir fällt auf, dass ich viel zu viel bestelle. Überhaupt hielt sich meine Nahrungsaufnahme bisher in Grenzen. Ein neues, aber auch ein sehr gutes Gefühl. Unsere Nachtmontur ziehen wir aus. Als wir losfahren bricht auch die Sonne durch. Gert hatte in seiner Beschreibung der Strecke beschrieben, dass das „het meeste en zwaarste klimwerk“ noch hinter Diemelstadt kommen soll. Gemischte Gefühle auf das, was da kommen mag. Die Strecke führt zunächst durch ein wunderbares kleines Tal. Kleine Straße, eher ein Radweg. Es ist wie gemalt. Dann kommen wir in einen Wald und biegen links auf eine Landstraße. Von hier ab nur bergauf. Und zwar richtig. Die ersten wirklich fiesen Rampen. Fritz vorweg. An jeder Kuppe rufe ich ihm zu, ob es jetzt gut sei. Nein, ist es nicht. Es geht immer weiter bergauf. Auf den Asphalt hat irgendwer die Steigerungsprozente hingeschrieben. 9%, 11%, 12% ist zu lesen. Als wir aus dem Wald kommen, ist die die Kletterei erst einmal vorbei. Es geht aber auch nicht gleich runter, wie ich erhofft hatte. Wir erreichen eine Hochebene, auf der es ein paar Kilometer leicht bergan geht. Dann noch mal ein paar Kilometer steil hoch auf Serpentinen. Was dann kommt, verschlägt mir fast den Atem. Unter uns breitet sich die flache Ebene zwischen Porta Westfalica und dem Sauerland aus. Die Sicht ist so gut, dass man im Nordwesten Münster erahnen kann! Die Motivation steigt wieder sprunghaft an. Ich stürze mich förmlich in die lange Abfahrt den Bergrücken hinunter in die Ebene. Einfach ein unglaubliches Gefühl, nach der bergigen Nacht und dem steilen Morgen im Sonnenschein kilometerlang einfach los zu brettern. Und die Gewissheit zu haben: Die Berge sind hinter uns!

Unten in der Ebene macht sich das Knie plötzlich wieder bemerkbar. Sonderbar. Solche Probleme hatte ich noch nie. Und statt besser, wird es langsam immer schlimmer. Mit der Zeit kann ich das linke Bein kaum noch strecken. Bei jeder Kurbelumdrehung meldet sich das Knie wenn der Fuß kurz vor dem unteren Totpunkt ist. Ich mache mir langsam Gedanken. Trotzdem geht es weiter. Beim 600er empfinde ich den Teil zwischen 350km und 500km als große Leere. Es ist bei mir ein Gefühl, dass noch nicht viel geschafft ist und das Ziel noch weit sei. Die Strecke führt südwestlich an Paderborn vorbei. Die Ebene ist offen. Viele Felder, viele Wiesen, kaum Wald. Kleinere Ortschaften und einzelne Gehöfte. Erinnert mich an meine niedersächsischen Wurzeln. Ich fotografiere viel zu wenig. Der Wind kommt leicht von vorne. Die Sonne knallt vom blauen Himmel. Ideale Bedingungen. Leider werden die Knieschmerzen immer stärker. Jedes Mal, wenn ich es rollen lasse, graust mir vor dem Moment, wieder das Bein strecken zu müssen. Vielleicht sind die neuen Pedale einfach zu fest? Ich halte an und schraube den Anschlag komplett in die andere Richtung. Macht das Ganze noch fester. Ich kann links noch nicht mal richtig einklicken! Also wieder Retour. Nach 460km erreichen wir Oelde. Die Kontrolle ist eine Tankstelle. Das Essen dort ist nicht nach unserem Geschmack. Gegenüber ist ein Burger King. Da hellt sich die Stimmung auf. Nach einem Whopper Menü geht es weiter. Die Schmerzen nehmen zu. Es wird teilweise unerträglich. Die ersten Gedanken über Abbruch schießen durch den Kopf. Aber dann war alles umsonst. Also Zähne zusammen und weiter. Fritz schlägt vor, dass wir noch mal eine Pause machen. Kommt mir sehr entgegen. Das Bein lege ich hoch. Vor der Weiterfahrt krame ich noch zwei Ibus aus der Tasche. Damit lässt der Schmerz nach. Glücklich bin ich nicht. Zumal ich nicht abschätzen kann, ob Folgeschäden bleiben. Ich bin mental am Boden. Die Strecke zieht sich auch so dahin. Wir fahren gefühlte Stunden auf Radwegen entlang breit ausgebauten Bundesstraßen. Der Sonntagsausflugsverkehr nimmt gegen Nachmittag zu. In Buldern (530km) ist die letzte Kontrolle. Wir genehmigen uns großes Eis beim Italiener. Flaschen auffüllen. Bein dehnen. Nur noch der Gedanke an die restlichen 70km. In einem großen Bogen geht es um südlich um Münster herum. Ich sehe nur noch Autos, spüre Gegenwind. Will einfach nur noch durch. Trete unvermittelt in die Pedale. Warte an der nächsten Ecke auf Fritz. Mit gleichmäßigem randonnieren hat das nicht mehr viel zu tun. Hinter Coesfeld passieren wir die Grenze. Lediglich die Mittelstreifen auf dem Radweg zeigen an, dass wir wieder in den Niederlanden sind. Noch 18km. Zum Teil führt die Strecke über eine Sandpiste. Da freut sich das Open. Ich lasse es noch mal schnell angehen. Dann endlich ist Boekelo erreicht. Um 20:20 Uhr rolle ich mit Fritz gemeinsam vor das Lokal. Gert hat sich an einem Tisch außerhalb postiert und nimmt uns freundlich in Empfang.

Kneipe
Es ist geschafft!

Fritz nachher!Schon steht auch ein Kellner neben mir. Zwei Bier für Fritz und mich. Es ist eine ganz wunderbare Stimmung! Das tiefe innere Glücksgefühl und die Zufriedenheit, die ich schon in London letztes Jahr hatte, machen sich breit. Die Sonne geht gerade unter. Es ist warm. Wir essen noch etwas und lassen die Atmosphäre auf uns wirken. Dann fahren wir zurück zu unserer Unterkunft. Dort duschen wir und trinken noch ein paar Bier. Um elf ist dann Feierabend. Ich sinke in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen treffen wir beim Frühstück die Randonneure vom Freitag. Über das Erlebte wird kaum gesprochen. Alle wollen offenbar nur noch nach Hause. Fritz und ich lassen uns Zeit. Verstauen dann die Räder und fahren Richtung Heimat. In Hohenwarsleben trennen sich unsere Wege. Es war ein tolles Brevet. Für mich das zweitschönste (LEL2017 ist unerreicht). Eine abwechslungsreiche Strecke. Anspruchsvoll. Auch der Zeitpunkt im Jahr mal was ganz anderes. Appell an die Veranstalter: Wieso fahren wir in Deutschland eigentlich immer Brevets von März bis Juni?! Im Sommer/Spätsommer ist der Körper gut in Form. Das Wetter ist noch schön. Am Nachmittag bin ich zu Hause. Bringe noch Kuchen mit. Das Fremdgehen in den Niederlanden hat sich gelohnt! Paris kann kommen!

 

Cool down:

Das Knie wird zwar etwas besser. Aber so richtig weg geht der Schmerz auch nicht. Freitag gehe ich zur Physiotherapie. Ergebnis: Der Oberschenkelbeuger ist am Knieansatz total verhärtet! Reaktion auf eine Fehlbelastung. Ob ich denn am Setting etwas verändert hätte. Nein kommt es erst einmal spontan. Oder doch. Ich hatte ja eine Woche vorher neue Pedale bekommen. Der Physiotherapeut grinst. Die sind natürlich viel härter, weil nicht ausgeleiert! Und dadurch hatte der Fuß viel weniger Spiel. Eine ordentliche Massage und zwei Tage Ruhe helfen. Ich bin erleichtert.

Kontakt:

georg [punkt] maas1967atgooglemail [punkt] com (georg[dot]maas1967[at]googlemail[dot]com)

Strecke bei Strava:

https://www.strava.com/activities/1832164564